load

Klaus Woltron

Blog

zurück

Brexit — Katastrophe oder Revolution?

„Wer die Wahrheit spricht, braucht ein schnelles Pferd“ (Kung — Fu — Tse)

Einleitendes

Die Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, kommt einer Revolution gleich: Ein Volksaufstand gegen bevormundende Zentralen, Fremdbestimmtheit und die Hybris Praxisferner. Sie wird zurzeit, hauptsächlich von den Adepten des Bestehenden, wütend kritisiert, die Konsequenzen in den düstersten Farben, als eine einzigartige Katastrophe für Britannien, gemalt. Wie nimmt sich dies alles vor dem Hintergrund geschichtlicher Erfahrung aus?

Anm: Zu Ende dieses Beitrags finden sich einige weiterführende Links. 

Revolutionen, ihre Kinder und Enkel

Eine Binsenweisheit ist’s, dass Revolutionen regelmäßig ihre Kinder auffressen und dennoch ihre Ziele erreichen, mit einer Verzögerung von vielen Jahren und Jahrzehnten, fast immer. Die Kräfte der Beharrung finden sich zumeist bei den Älteren, im bekämpften System. Nach einer Phase der Schockstarre — dem Sturm auf die Bastille, das Zarenschloß, die Zonen — Mauer, nach dem Thronfolger — Mord, etc. — sammeln sich die Kräfte der Beharrung, reparieren ihre beschädigten Wälle notdürftig und weisen die Renegaten in ihre  Schranken, meist mit blutigen Köpfen. Dort finden sich die meist jungen Feuergeister mit ihren neuen Ideen wieder zusammen, und im nächsten oder übernächsten Anlauf werden die Mauern gestürmt, niedergerissen und die neuen Ordnungen kristallisieren an den revolutionären Ideen, noch lange im Kampf mit dem Althergebrachten.

Viele Ordnungen kennt die Welt

Dieser Prozess wird von einem ebenfalls immer wiederkehrenden Phänomen begleitet: Die Repräsentanten der Beharrung können sich ganz einfach nicht vorstellen, dass eine neue Ordnung ebenso oder noch besser funktionieren könnte wie bzw. als die alte. Dabei liefert die Geschichte unzählige Beispiele dafür, dass es viele unterschiedliche Ordnungssysteme gibt, die, konsequent angewandt, über Jahrhunderte stabil und gut funktionieren können — beginnend mit den Horden der Steinzeit, die wahrscheinlich weitestgehend auf dem Recht der Stärkeren beruhten, bis herauf zu unserer angeblich so aufgeklärten modernen Demokratie, die wiederum im Wettstreit mit recht stabilen totalitären Systemen mit hunderten Millionen Menschen steht, welche ihr eigenes System als das überlegene betrachten. Instabil sind zumeist jene sozialen Systeme, in welchen unterschiedliche Ordnungen unversöhnlich gegeneinander arbeiten und eine Lösung anstehender Probleme dabei unterbleibt.
In Krisenzeiten, da eine bestehende, in die Jahre gekommene Ordnung unter dem Druck schwindenden Vertrauens zu krachen und zu ächzen beginnt, treten stets eine Menge von Anwälten der alten Ordnung hervor und warnen entsetzt — auch im Interesse ihrer eigenen Pfründen und Herrschaftsbereiche — vor den schrecklichen Folgen einer massiven Änderung. Diese Folgen leiten sie aus den Erfahrungen mit der Verletzung der bestehenden Ordnung ab, die — per definitionem — meist sehr schlecht waren und sind. Sie ziehen bei der Verlängerung dieser Erfahrungen in die Zukunft aber nicht ins Kalkül, dass bei einem derartigen komplexen und turbulenten Prozess stets eine ganze Reihe völlig neuer, unerwarteter und unkalkulierbarer Effekte eintreten, die die Rechnung mit den alten Daten völlig falsifizieren können. Sie behalten allerdings insofern oft Recht, als die Vorteile eines massiven Kurswechsels recht lange von den Geburtswehen des neuen Systems überlagert werden.

Die Kraft des Unerwarteten

Einer der wichtigsten Parameter in diesem Zusammenhang ist die enorme Zunahme an Kraft, Opferbereitschaft und Fantasie der Umstürzler.

Eine weitere Energiequelle kann die Bildung neuer externer Allianzen, die schnelle Nutzung bisher vernachlässigter Innovationen technischer, administrativer oder finanztechnischer Art sein. Und letztendlich kommt den Tüchtigen und Wagemutigen recht oft auch das Auftreten unerwarteter äußerer oder innerer Ereignisse, mit denen überhaupt niemand gerechnet hatte, zugute — wie z. B. Elizabeth I der Sturm bei Trafalgar, der die der englischen weit überlegenen spanische Flotte zerstörte. Ganz aktuell ist die völlig unerwartete Rückkehr der Makrelenschwärme in die isländischen Gewässer — stracks nach der Finanzkatastrophe. Derartige unerwartete Effekte sind bei weitem nicht so selten, wie man annehmen würde. Die Geschichten vom „Schwarzen Schwan“ sind legendär. 

Brexit — Prognosen mit Tunnelblick

Genau nach diesem tumben Schema der linearen Extrapolation läuft gerade das Raunen betreffend die angebliche Brexit — Katastrophe für die Briten ab. Ganz anderes aber wird geschehen.

Wie nach jeder schweren Operation ist der Organismus und die Psyche eines Patienten in Aufruhr: Der Kreislauf schwächelt, der Blutdruck schwankt, die Stimmung detto. Es wird — im Fall des gerade frisch operierten Britannien — einige Zeit dauern, bis sich Beruhigung, personelle Erneuerung und neue Pläne einstellen. Die unerwartet schnelle Entscheidung für eine neue Führungspersönlichkeit ist ein erstes Zeichen für die Energie und Entschlossenheit, die durch die Krise provoziert wurde.
Während sich die unzähligen Diskutanten, Arbeitskreise und einander widersprechenden Häuptlinge der EU in endlosen Debatten verlieren, sich immer neu selbst definieren, tauchen am Horizont schon wieder neue lokale Krisen auf, die alsbald das ganze fragile Gebilde in neuen Aufruhr versetzen. Im Gegensatz dazu kann England, befreit von diesen Zwängen, allen Ballast, der die EU aufbürdet, abwerfen: Unternehmenssteuern werden gesenkt und damit die von düsteren Prognosen prophezeite Abwanderung von Firmen ins Gegenteil verkehrt. Eine Fülle von Gesetzen und Verordnungen, welche von den Bürokraten in Brüssel zwecks Arbeitsbeschaffung für sie selbst „erlassen“ worden waren, werden außer Kraft gesetzt und damit Freiheit für unternehmerisches Handeln geschaffen. Rückfrage für alles und jedes erübrigen sich, damit ist einem der wichtigsten heutigen Konkurrenzvorteile: „Schneller, besser — Chancen nutzen!“ Tür und Tor geöffnet.


Die inneren Krisen der EU — Banken, Bailout, Migration — können teils negiert, teils eigenständig geregelt werden. Und die bewährten Partner in der Wirtschaft, unabhängig von allen Grenzen, werden sich schon zu helfen wissen, wie immer. Die Verbündeten jenseits des großen Teichs bleiben dabei nicht untätig.

Der Island — Effekt

Das Allerwichtigste aber ist die Nutzung des Island — Effekts: Menschen vervielfachen ihre Energie und ihren Einsatz, wenn sie gemeinsam einer existenziellen Situation gegenüberstehen. Das wissen wir alle, wenn wir an das Beispiel einer Flutkatastrophe, eines Erdbebens oder eines Großbrands denken. Die einigende und motivierende Kraft einer gemeinsamen Bedrohung funktioniert diese in eine gemeinsame Herausforderung um, welche ungeahnte Kräfte, Fantasie und Anstrengung freisetzen. Island ist auf vielen Gebieten ein leuchtendes Vorbild: Die alte Kamarilla wurde vom Sturm des zornigen Volks hinweggefegt, der Versuchung, sich als Untertan der EU feig vor der Verantwortung, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, zu drücken, nicht stattgegeben. Die Resultate sind bekannt: Es geht bergauf, und erst einer Fußballmannschaft eines per Bevölkerungszahl hundertfach überlegenen Staats gelang es, den Vormarsch der begeisterten Kleininsulaner zu stoppen — dennoch sind sie die eigentlichen Sieger der EM. 

Die Rolle der inneren Einigkeit

Eine große Gefahr allerdings besteht für die Briten: Jene der inneren Uneinigkeit. Wenn es nicht gelingt, sich zum Ergebnis der Volksabstimmung auch auf den Gebieten konkreter Aktionen zu bekennen, nicht an einem Strick zu ziehen und sich in inneren Querelen verlieren, haben sie wirklich das falsche Los gezogen. Den ersten Schritt, dies zu vermeiden, ist ihnen mit der blitzartigen Kür einer neuen Premierministerin bereits gelungen. Sollte dieser erste Erfolg nicht anhalten, wäre es angebracht, sich, wie z.B. wir in Österreich, sicherheitshalber wieder in die Quarantäne eines äußeren Hegemon zu ducken, der die Verantwortung für die großen Fragen übernimmt und auf den man dann bei allem auftretenden Unbill als Sündenbock hinweisen kann.


Die Gegner des Brexit wissen diesen Effekt wohl zu nutzen, indem sie alle Register ziehen, um die Uneinigkeit in England zu schüren und unter der Macchiavelli’schen Devise: „Divide et impera“  ihre diversen Schäfchen wiederum zurück ins Trockene, Profitable und Be-herrschbare zu bringen. Die Herolde dieses Kampfes sind insbesondere praktische alle Institutionen und Spieler des internationalen Kapitals, welche ein sehr enges und auch personell verflochtenes Netzwerk mit den EU — Institutionen unterhalten, samt ihren Nachbetern in vielen Medien und politischen Zirkeln.


Die Parole der Freiheitsliebenden aller Länder

Es wird sich zeigen, ob es außer Island, der Schweiz und einigen anderen noch weitere Völker und Staaten in Europa gibt, die in der Lage sind, für ihre Bürger im Sinne des Rütlischwurs  zu handeln:

"Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern,
in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen".

Lässt man das Schiller’sche Pathos weg, ist dieser immer noch die beste Parole in einer Welt der Manipulation, Ausbeutung und Willkür. Die EU hätte die Chance, sich im Sinne einer flexiblen, föderalistischen Wirtschafts — und Verteidigungsunion dieser immer stärker werdenden Sehnsucht der europäischen Bürger anzupassen. Beobachtet man die anachronistischen Reflexreaktionen ihrer Exponenten und die Komplexität der hierfür erforderlichen Entscheidungen, ist die Hoffnung auf eine derartig grundlegende Häutung des Kolosses allerdings mehr als zweifelhaft. Die zu erwartenden Reaktionen des Leviathans abzuschätzen ist eine weitere lohnende Aufgabe, der es sich alsbald zu stellen lohnt.

Nachwort: Zum Blickwinkel des Verfassers

Eiligen Lesern sei empfohlen, diese Lektüre samt Quellenstudium auf ein ruhiges Wochenende zu verschieben. Hastiges und Hingeworfenes vom Autor hingegen findet sich stets auf Twitter 

Die sogenannte Wahrheit ist ein Produkt einer (vielleicht) objektiven Außenwelt und deren Abbildung und Interpretation in einem höchst unvollkommenen Erkenntnisapparat, Hirn genannt. Darüber haben sich schon große Geister von Platon bis Kant die Köpfe zerbrochen, und sind dennoch nicht zu Rande gekommen Man muss daher, um des guten Verständnisses eines Standpunkts halber, auch dessen persönlichen Hintergrund, die Entstehung der Summe an Vor — Urteilen, anführen. Dieser wiederum ist das Produkt einer jahrzehntelangen Fütterung eines Gehirns durch Ausbildung, Erziehung, Lektüre, Manipulation und, vor allem, persönliche Erfahrung.


Der Hintergrund der Vor- Urteile

Des Verfassers dadurch bestimmter Standpunkt ist, kurzgefasst, jener eines männlichen Wesens, zugehörig der in Europa vor etwa 50.000 Jahren vom Lichtmangel gebleichten Art des Homo sapiens. Geboren fünf Monate nach Beendigung des 2. Weltkriegs, auf der Flucht seiner Eltern vor den Russen. Geformt vom einfachen Leben auf dem Land, indoktriniert und belehrt von tüchtigen Professoren einer allgemeinbildenden Lateinschule. Vorbereitet auf einen Beruf, der ihn später auf der ganzen Welt um-trieb und zur Anführung von teils beträchtlichen Menschenmengen veranlasste, durch akademisches Studium des Feuers und Eisenkochens. Gesandwiched von den Herausforderungen dieses Berufs, dessen unerwarteten Weiterungen und Schattenseiten. Zum Paulus der Ökologie gewandelt. In Erkenntnis der Mängel der dort wiederum angetroffenen Sippschaften und Gaukler zu einem Teilkonvertiten zu den Saulussen rückgeworfen. Derzeit fröhlich lebend in einem Familiendorf, umfassend drei Generationen. So zu einem Wanderer zwischen vielen Welten und Generationen geworden und auf alle Fantastereien, die als Wahrheiten wütend verteidigt werden, vorbereitet, teils ironisch, manchmal zynisch, in guten Zeiten nachsichtig — arrogant. Manchmal, gottseidank, immer noch staunen — könnend über unbekanntes Neues.

Dies alles führt zu höchst subjektiven Urteilen über Gott und die Welt — aktueller Weise in diesem Beitrag, über den Wagemut der Briten, sich aus der EU fortmachen zu wollen. Die Urteile Dritter sind eben-so subjektiv — oft jedoch gibt man es nicht zu — oder ist sich dessen schlicht nicht bewusst. Schlimmeres ist denkbar und möge hier keinen Platz finden.

Quellen und weiterführende Links

1.) Hastiges und eilig Hingeworfenes 
2.) Tractatus ironico — philososophicus 
3.) Die Vor — Geschichte
4.) Politische Systeme 
5.) Wenn der Schwarze Schwan kommt 
6.) Islands Geheimnis 
7.) Divide et impera, Herkunft 
8.) Der Rütlischwur 

Kommentare
Unbekannt am 13.08.2016 um 08:05 Uhr:

Interessant