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Klaus Woltron

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Wirklichkeit (1992)

Ein großer Saal ist’s, voller Ohren, und alles hängt von Mündern dicht …

Klaus Woltron

Ein großer Saal ist’s, voller Ohren,

und alles hängt von Mündern dicht.
Da wird ein Wort gewispert,
das, aufgefangen, zart verstärkt,

herausdringt aus dem nächsten Mund,
in andre Ohren sickert, verändert, aber doch verwandt
und tönend weiterklingt aufs Neue.
So wird es tausendfach gespiegelt, gebrochen

und verformt und bleibt doch irgendwie
dasselbe, eingetaucht in andre Farben
mit neuen Schlieren und Nuancen zart glasiert
und badend in sich selbst, aus eig’nem Naß erglänzend.

Als Melodie zugleich ihr eigner Hall und Ursprung,
gerufner Ton und Ohrgebraus in ei­nem.
Das ist’s, was unsre Wahrheit macht –
ein vielfach Rufen, Hören und Echoen,

ein Widerspiegeln in den Geistern andrer.
So selten ist ein neuer Ton im allge­meinen Brausen,
so zaghaft klingt er, wie ein sanftes Kind
summt er die neue, leise, klare Me­lodie,

so groß ist die Gefahr, daß wir sie überhören.
Was nicht erfasst und rückgeworfen wird,
das wird vergehen und nicht leben
als klarer Tropfen in dem Meer des Wahren,

in dem wir schwimmen wie die Fische
in unsrem eignen Duft oder Gestank, so wie wir’s wollen,
das uns ganz füllt in unsrem Wesen
mit Blut, Gefühl und zitternden Ge­danken.

Wirf Deinen Kopf zurück und lass das Echo brausen,
das neuen Schall ins Leben bringt,
und lass den Spiegel blitzen, der uns alles füllt
mit fortgelenkten fremden Farben.

So laßt uns fliegen in den selbstge­malten Wolken
als Vögel in der eignen, klaren Luft,
so laßt uns selbstvergessen schwimmen
als Fische im geweinten Tränen­meer.

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