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Klaus Woltron

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Wo bleibt dein Stier, Europa?

„Die Geschichte lehrt, dass ein Land, das zu keiner Kultur gehört und eines kulturellen Kerns ermangelt, sich nicht lange als kohärente Gesellschaft halten kann. ... Samuel P. Huntington

Klaus Woltron

Man erinnere sich: Zeus verwandelt sich aus Liebe zu Europa in einen prächtigen Stier, verlockt sie dazu, seinen Rücken zu besteigen und entführt sie nach Kreta, wo er sein Mütchen an ihr kühlt. Ihre Reaktion da-rauf ist nicht überliefert. Die ganze Geschichte begann also mit einer Entführung, wenn nicht Vergewaltigung. Ist das, was wir heutzutage erleben, etwa gar eine Fortsetzung dieser romantisch — gewalttätigen Affäre?

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Die Gründerväter des Vereinten Europa — Adenauer, De Gaulle etc. — hatten hauptsächlich ein Ziel: Sie wollten der Kette von Kriegen zwischen den europäischen Staaten ein für allemal den Garaus machen. Indem man zerstrittene Geschwister in ein Zimmer sperrt, ihnen die Mahlzeiten in einem gemeinsamen Topf serviert und das Taschengeld kollektiv auszahlt, ist allerdings noch keine Familienkrise wirklich ausgemerzt worden. Dazu gehört wesentlich mehr: Eine gemeinsame Vision, selbstverständliches Zusammengehörigkeitsgefühl, verbindendes Schicksal. Dass heutzutage soviel darüber theoretisiert wird, was Europa einigen könnte, ist dafür der beste Beweis: Wovon man am meisten redet, ist am wenigsten selbstverständlich.

Oder, mit Viktor Frankl: Wenn man von der Lust spricht, vergeht sie einem auch schon.

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Die Amerikaner sind ein heterogenes Volk. Dennoch haben sie es geschafft, binnen weniger Generationen die Weltherrschaft zu erringen. Sie verbreiteten ihre eigentliche Religion, den Dollar, über die Welt. Ihre Waffen- und Informationssysteme machen sie unbesiegbar. Die Musikkultur made in USA beherrscht die Radioprogramme in aller Welt. Alte und neue Western — Helden und Silikon — geschwellte Sexgöttinen beflügeln weltweit die Träume und Wünsche ganzer Generationen.

Das Geheimnis: Jugend, gemischt mit Pioniergeist, immer wieder erneuerten und modernisierten Feindbildern und ein Puritanismus, den sie aus Old England und Preußen, woher sie Legionen von Soldaten und Siedlern importierten, mitnahmen.

Sie definieren sich an dem zu Erobernden oder an einem äußeren Feind, also am Rundum und weniger aus sich selbst heraus. Bis jetzt gelang es, mit diesen Klammern und dem darüber thronenden Gott Dollar die inneren Gegensätze- verschiedene Völkerschaften, Religionen und Kulturen– halbwegs auszugleichen. Der 11. September hat dieses Selbstverständnis nachhaltig erschüttert.

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Was aber hat Europa dem, was man früher den Rest der Welt nannte und was heute ein übermächtiges Umfeld ist, in welchem sich Europa als armseliges kleines Halbinselchen ausnimmt, entgegenzusetzen? Die Phase, in welcher sich die USA befinden, haben wir längst hinter uns. Der Euro allein wird’s nicht sein können. Derzeit haben wir wohl „nur“ unsere Geschichte, denn eine zukunftsweisende Vision– außer rein ökonomischen Zielen, die nicht zuletzt im Interesse der USA liegen und noch nie eine Gemeinschaft nachhaltig zusammenhalten konnten- sehe ich nicht. Und daher sollten wir uns, bis wir eine wirklich selbstverständliche Sicht unserer Zukunft gewonnen haben, an dieser Geschichte und Kultur festhalten und sie als ein kostbares Fundament betrachten: Ein Fundament für ein Gebäude, das erst in vagen Umrissen sichtbar ist.
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Was macht Europa heute aus ?

Europa hat den Individualismus hervorgebracht (an dem es möglicherweise scheitern könnte). Indogermanische Völker brachten das Patriarchat und strenge Hierarchien in die alten Hochkulturen: Lange Zeit ein erfolgreiches Rezept. Europa hat die Freiheit des Denkens hervorgebracht, kennt die umfassendsten Ordnungen und die Unruhe der Revolutionen, es ist einmal konservativ und vollzieht ein andermal die radikalsten Durchbrüche. An den Wurzeln Europas steht die große Antithese von Antike und Christen-tum:

• Welt versus Transzendenz
• Wissenschaft und Gestaltungswillen versus Religion.

Im Christentum und, später, im Sozialismus wird diese Spannung teilweise überwunden. Europa hat die systematische Wissenschaft hervorgebracht, die "Erfindung des Erfindens". Europa, das ist auch Nachhaltigkeit, die Sorge für die nachkommenden Geschlechter. Das alles sind Eigenschaften, mit denen wir uns identifizieren, die unser Selbstverständnis begründen können, eine europäische Identität. Als moralisches, Religions- unabhängiges Fundament dienen die die vier griechischen Tugenden: Selbstbeherrschung, Tapferkeit, Einsicht und Gerechtigkeit.

Ob Europa heute attraktiv genug ist, dass sich ein Gott verlieben könnte? Wäre ich Zeus, ich würde mir die Sache genau überlegen. 

(Dieser Beitrag erschien vor 15 Jahren. Seither ist die Lage noch viel schwieriger geworden — und ich viel skeptischer.) 

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